Ein Drama in fünf Akten
von
Walter Hasenclever
Kurt Wolff Verlag · Leipzig
Geschrieben 1913
Erstmals erschienen im Frühjahr 1914
Das Recht der Aufführung ist
durch den Bühnenvertrieb Paul
Cassirer, Berlin, zu erwerben
Sechstes bis zehntes Tausend
Copyright 1917 Kurt Wolff Verlag, Leipzig
Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Der Vater
Der Sohn
Der Freund
Das Fräulein
Der Hauslehrer
Der Kommissar
Adrienne
Cherubim
Herr von Tuchmeyer
Fürst Scheitel
*
Zeit: Heute.
In einem Verlaufe von drei Tagen.
Das Zimmer des Sohnes im elterlichen Hause. In der Mittelwandein großes Fenster mit Ausblick in den Park, fern die Silhouette derStadt: Häuser, ein Fabrikschornstein.
Im Zimmer die mäßige Eleganz eines angesehenen Bürgerhauses.Möbel in Eichenholz; die Ausstattung eines Studierzimmers: Bücherschränke,Arbeitstisch, Stühle, Landkarte. Tür rechts und links. DieStunde vor der Dämmerung.
Der Sohn. Der Hauslehrer.
Der Sohn:
Ich bin zwanzig Jahre alt und könnte am Theater seinoder in Johannisburg Viadukte bauen. Weshalb muß esan der Formel für den abgestumpften Kegel scheitern!Alle Professoren waren mir gewogen, sogar der Direktorsagte mir vor. Ich hätte die Aufgabe glänzend gelöst —wäre ich nicht im letzten Augenblick geflohn. Ich glaube,es gibt etwas, das zwingt uns zum Schmerz. Ich hättedie Freiheit nicht ertragen. Vielleicht werde ich niemalsein Held.
Der Hauslehrer:
Sie haben also die Matura nicht bestanden. Wie oft habeich mit Ihnen hier an diesem Tische gesessen und mitIhnen die Formeln gepaukt. Habe ich Ihnen denn nichterklärt, daß man den kleinen vom großen Kegel subtrahiert!Antworten Sie!
Der Sohn:
Ja, Herr Doktor. Sie haben es mir erklärt. Ich versteheIhren Schmerz. Sie sind traurig, weil dieser Kegel inder Welt ist. Glauben Sie mir, ich bin es nicht mehr![S. 4]Mir fehlt sogar die vergängliche Pose, die sich noch unterTränen verhöhnt. Sie werden sagen, ich sei ein Schwächlingoder ein Schurke. Aber ich sage Ihnen: ich stand imschwarzen Rock vor der schwarzen Tafel — und wußte genau,daß ich die Kreide in der Hand hatte. Ich wußtesogar, daß man den kleinen vom großen Kegel subtrahiertund trotzdem — ich habe es nicht getan.
Der Hauslehrer:
Aber weshalb nicht! Ich frage Sie, weshalb?
Der Sohn:
Jemand wurde vor mir in Geschichte geprüft: 1800 sound so viel war die Schlacht bei Aspern. Und während meineHand unwirklich die Kreise an der Tafel beschrieb, sah ichErzherzoginnen und fliehende Boulevards ... Sie werdenbegrei